Interview mit Andréa Howald Nigg
Schweizer Logik und Gelassenheit treffen Brasilianisch Feuer und Lebensfreude.
„Ich musste lernen leiser zu sein, zurückhaltender – weniger brasilianische Lebensfreude versprühen“, sagte Andréa Howald Nigg, mit fliegenden Händen und einem riesigen Lächeln, voll von Freude und Energie. Ok, vielleicht hat sie die Südamerikanisch Leidenschaft in den letzten 27 Jahren nicht ganz verloren. Aber genau diese Energie und ihre positive Lebenseinstellung, waren die Werkzeuge die sie gebraucht hat ihr „Zuhause“ in der Schweiz aufzubauen. Und das tat sie.
Liebe Andrea, du bist Mutter, selbständige Geschäftsfrau, Fotografin, Portugiesisch Übersetzerin, Mitglied der Interkulturellen Mediatorinnen. Du bist auch sogar eine mittelalterliche Magd namens Mechthild welche du, mit Karin Steiger im Projekt „Bewegtes Werdenberg“, ans Leben gerufen hast.
Erzähle uns wie und wieso du beim Schloss Werdenberg und die Living Historie angefangen hast?
Das Schloss hat mich immer beeindruckt, ich habe es häufig besucht. Wenn ich Besuch aus Brasilien hatte, ging ich mit Ihnen nach Schloss Werdenberg. Ich habe Ihnen Kleinigkeiten gezeigt und erzählt was ich wusste. Herr Karl Blass, ehemaliger Schlossgeist fragte, „Du bist immer da, warum machst du die Führungen nicht selber?“ So habe ich angefangen.
Wir hatten immer häufiger Frauenvereine und Jungbürgergruppen bei uns. Meine Kollegin Karin Steiger und ich suchte einen Weg die Leute abzuholen, das Interesse für das Schloss Werdenberg zu wecken und ihnen die Geschichte näher zu bringen. Dann kam die Idee: Wir ziehen Gewänder aus Mittelalterzeiten an und spielen die Rollen der Gräfin Clementa und ihre Magd Mechthild an den speziellen Führungen. So ist das Projekt „Bewegtes Werdenberg – Living Historie“ geboren.
Heute sind Fachleute dabei und das Programm hat sich professionell entwickelt. Speziell aufgenommene Audio Tours in verschieden Sprachen, kulturelle und musikalische Höhenpunkte stehen jedes Jahr auf dem Programm. Meine Figur, die Burgmagd Mechthild, ist geblieben. Wir, This Isler, Maja, Urs, Marco und Peter Sünderhauf, Karen Van Rekum, Flavio und Isis Nigg, Gerald Luck, seine Frau Mona und die Tochter Chantal, Stefanie Hagmann, und ich gehören zum „Mondnacht-Team“. Es ist sehr schön mit dieser Gruppe gemeinsam ins Mittelalter einzutauchen und den Besuchern diese Epoche näher zu bringen. Dieses Jahr (2017) wird diese spezielle Führung am 30.06. und 08.09. aufgeführt.
Mehr Infos auf: www.schloss-werdenberg.ch
Reisen wir in die Vergangenheit zurück. Wie hat für dich das Auslandabenteuer begonnen?
Ich habe die Universität besucht und obwohl ich erst 20 Jahren alt war, leitete ich eine kleine Pension in Brasilien in einem kleinen Ferienort im Bundesland Rio de Janeiro. Ich habe meinen ersten Mann, einen Schweizer, in Brasilien kennengelernt und geheiratet. Innerhalb ein paar Wochen war ich Besitzerin des roten Passes- ich bin Schweizerin geworden.
Es muss Schicksal sein: Meine Familie ist der Meinung, dass wir Deutsche Wurzeln haben – aber eigentlich sind sie Schweizer – aus Zürichgebiet! Wir sind 1989 dorthin umgezogen.
Hast du damals schon Deutsch gesprochen?
Ich habe in Rio sechs Wochen Deutschunterricht gehabt. Da habe ich die wichtigen Sachen gelernt: z.B: Ich habe Hunger und ich muss auf Klo.
Meine Schwiegermutter und ich waren immer mit dem Wörterbuch auf dem Weg. Auch später, als ich geputzt habe, hatte ich es immer dabei.
Ich bitte dich, das war mit dem Dialekt nicht immer einfach, finde einmal das Wort „Lumpa“ im Duden. Aber eigentlich lerne ich sehr gerne Sprachen.
Wie war es mit dem Kulturschock?
Die Kälte hat mir zu schaffen gemacht. Aber alles war komplett anders, als ich es mir vorgestellt hatte und ich verstand gar nichts.
Zum Teil war der andere Lebensstil schuld aber auch der Umzug von einer Grossstadt aufs Land.
Aber alles war/ist so geregelt. Um 18.30 machen die Geschäfte zu – Mittwochnachmittag auch. Ich dachte, „Was läuft hier ab?“ Die Kirchenglocken läuten um 12.00. Alle sollten nach Hause gehen zum Mittagessen. Waschen war/ist nur am Waschtag erlaubt. Alles war so strukturiert, komplett fremd!
Ich bin, wir Brasilianer sind, extrem herzgesteuert. Schweizer sind eher hirngesteuert. Eine Mischung wäre wünschenswert. Wir können profitieren von der Schweizer Gelassenheit und Logik, sie von unserem Feuer und unserer Lebensfreude.
Nehmen wir ein Beispiel: Eine Brasilianerin erzählt ihrer Familie, dass sie schwanger ist. Zuerst gibt es Freudenschreie – ein riesiges Drama – Jubeln, es wird überall erzählt. Ein Fest findet statt.
Ich kann es mir gut vorstellen, Telefon und Facebook laufen heiss, die Planung der Taufe fängt schon an.
Hier erzählt man voller Freude, „Ich bin schwanger!“ Die Reaktion: „schön“ – einfach schön. (Kopfschütteln und Hände in die Luft) - Schön ist, wenn die Zeitung morgen im Briefkasten liegt.
Es ist nicht so, dass die Schweizer es so machen um uns zu ärgern – sondern sie sind einfach so.
Hast du Arbeit gefunden?
Ziemlich schnell fing ich als Putzfrau an. Ich bin im März angekommen. Im Juni habe ich eine Stelle als Putzkraft am NTB bekommen. Dort lernte ich super Leute kennen z.B. Paul Milsom und andere Sprachlehrer. Sie waren sehr nett und positiv mir gegenüber. Niemand hat mich „herunter“ gemacht – sondern mir geholfen. Die Putzleute werden wie alle anderen im Geschäft als Mitglied des Teams behandelt und verdienen einen normalen Lohn.
Ein positiver Kulturschock.
Bei uns in Brasilien werden Putzleute ignoriert, sie werden als eine Klasse tiefer wahrgenommen.
Bist du frustriert weil du von unten wieder neu anfangen musstest? Was hat dir geholfen die Schwierigkeiten zu überwinden?
Ich habe das als Abenteuer gesehen. Obwohl ich anfangs dachte, „Wieso bin ich so lange in die Schule gegangen „zum go putza?“
Ich entschied mich, bewusst zu denken „Ich bin angekommen“. Ich bin ein Machertyp, deshalb fragte ich mich, „Was will ich genau? Was muss ich dafür machen um meine Wünsche/Ziele wahr werden zu lassen?“ Und so sieht mein Lebenslauf aus.
Und sonst wollte ich allen meinen Verwandten, die Wetten abgeschlossen haben dass es nicht klappt, das Gegenteil beweisen.
Vom Putzen zum KV
Als ich Kinder bekommen habe, habe ich Teilzeit gearbeitet im Detailhandel. Als ich mich von meinem Ex-Mann getrennt habe, bin ich nochmals putzen gegangen in einem Büro in FL als Stellvertretung. Als die Mitarbeiterin zurückkehrte, durfte ich aushelfen. An einem Tag habe ich mein Interesse an einer KV Ausbildung geäussert. Sie sagten: „Wieso nicht!“ und haben mich unterstützt. Zuerst habe ich das Bürofachfrau Diplom gemacht, danach habe ich die Ausbildung Kaufmännische Angestellte am BZB Buchs absolviert. Ich habe auch das Goethe Diplom für Deutsch als Fremdsprachige geholt.
Wenn ich die Zeit und das Geld hätte, würde ich jeden Kurs absolvieren den sie anbieten. Ich liebe es zu lernen.
Hast du Fotografie auch so gelernt? Du hast jetzt die eigene Firma „Traumblick“ wo du dich auf Fotos mit Tieren spezialisiert hast.
Nein, ich habe damit angefangen, nachdem mir meine Familie eine Kamera geschenkt hat. Ich war begeistert. Zuerst habe ich einen Kurs besucht und immer wieder darüber gelesen.
Du hast bestimmt ein paar Deutschfehler gemacht – wie wir alle. Kennst du noch einen?
Oh, ja! Ich bin am Fussballplatz gewesen. Ein Kollege hat eine Cervelat bestellt. Es hat so fein gerochen. Ich wollte es unbedingt probieren. Leider sagte ich: „Darf ich dein Wurstli anbeissen?“ Alle haben so gelacht, ich hatte keine Ahnung was ich gesagt habe, was soooo lustig sein könnte. Im Nachhinein war es mir wirklich peinlich.
Woran haben Sie gemerkt, dass Sie hier „zu Hause“ sind?
Als meine Tochter auf die Welt gekommen ist. Jetzt bin ich verwurzelt - bin angekommen. Heute fühle ich mich als Schweizerin. Ich träume und lebe auf Schwyzerdütsch. - Und sowieso, was ich von Brasilien in Erinnerung habe, ist der Stand vor 27 Jahren. Ich weiss nicht, ob heute noch „ daheim“ schöner wäre. Es hat sich vieles geändert, ich habe mich geändert. Wenn ich nach Hause gehe, finde ich alles falsch, was nicht so ist wie in der Schweiz.
Ich nenne das „Niemandsland!“. Ich glaube alle VIP‘s kennen dieses Gefühl.
„Aha“ Moment
Ich habe eine Neuzuzüglerin gehört wie sie einen Deutschfehler machte und ich wollte blöd grinsen. Anstatt „es ist alles überschwemmt „– sagte sie immer wieder „wir haben Überwasser gehabt“. Ich dachte „Stopp“, so bist du auch gewesen, da dachte ich mir: “Super, sie gibt sich Mühe und muss die Fehler einfach machen.“
Peter Keller, SVP Nationalrat und stellvertretender Redakteur von der „Weltwoche“ sagte in einem Interview im Tagblatt auf die Frage: Wer ist Schweizer? „ In rechtlicher Hinsicht ist diese Frage schnell beantwortet: Ein Bürger der Schweiz ist man, wenn man einen Pass hat.“
Das bedeutet, dass Andrea Howald aus Brasilien, wie auch ich, Schweizer Bürger waren, bevor wir die Schweiz je betreten haben, ganz zu schweigen von der Kenntnis einer Landessprache, Traditionen oder etwas über die Kultur zu wissen. Aber irgendwie, wie Sie gelesen haben, ist es super ausgegangen, für Andrea und für unsere Region auch!
Fotos: Andréa Howald Nigg
© Copyright Vicki Gabathuler 2017